Storyhouse Verlag
 

Puppenspiel Leseprobe: Prolog

Ro Hansen leckte sich nervös die Lippen. Man musste auch mal was riskieren. Das lehrte die Geschichte.

Der Apotheker Friedrich Sertürner isolierte 1804 ein interes­santes Alkaloid aus dem Milchsaft der Mohnpflanze. Er nannte es Mor­phium und hielt es für bahnbrechend bei der Betäubung von Schmerzen. Weil ihm das niemand glauben wollte, nahm er im Selbstversuch eine ordentliche Portion zu sich und nur die rasche Einnahme eines Brech­mittels bewahrte ihn davor, für immer von allen Schmerzen erlöst zu sein. Beruflich ging es nach diesem Ver­such steil bergauf, ein paar Jahre später wurde ihm von der Universität Jena die Doktorwürde verliehen.

Der Wissenschaftler Barry Marshall wiederum war über­zeugt, dass Magengeschwüre nicht durch Stress ausgelöst wurden, son­dern durch ein Bakterium. Seine Zeitgenossen, viele von ihnen selbst Betroffene, hielten das für äußerst un­wahr­schein­lich, so dass sich Marshall 1984 zum Entsetzen seiner Gattin im Selbst­versuch ein komplettes Reagenz­glas Helico­bacter verab­reichte. Das ausgeprägte Magen­ge­schwür, an dem er daraufhin erkrankte, wertete er als vollen Erfolg. 2005 erhielt er den Nobel­preis für Medizin.

Forscher waren Getriebene, sinnierte Ro Hansen. Manche wa­ren selbst­lose Idealisten, andere besessen nach An­er­ken­nung. Auf jeden Fall bewegten sie etwas in ihrem Leben.

Ro Hansen wollte auch Bewegung in seinem Leben. Aber er war weder besessen noch Idealist. Und auch kein Wissenschaftler. Dafür hatte es nicht gereicht. Er war bloß ein normaler Ange­stellter, der ganz gut mit Computern umgehen konnte und den das Leben ansonsten bislang nicht weiter verwöhnt hatte. Es war nicht leicht, dem Leben mehr abzutrotzen, als es freiwillig herzugeben bereit war. Ro wusste das und hasste es. Also blieb er wach­sam, immer auf der Suche nach seiner Chance, nach einer Tür zum Glück, die er aufstemmen konnte.

Ro sah aus dem Fenster. Nieselregen biblischen Ausmaßes, der elfte Tag in Folge. Seit den 2030ern war es üblich, dass es Januar und Februar nahezu durch­regnete. Von Schnee keine Spur. Die gehässige Art eines klimagewandelten Winters sich zu ver­ab­schie­den mit einem das-habt-ihr-jetzt-davon, um einem asthmatischen Frühling den Weg zu bereiten, bevor dann ab Mai wieder die Dürremonate das Klima beherrschten.

Ro wandte den Blick ab. Was interessierte ihn das Wetter? Wie es aussah, hatte er vor kurzem eine Tür gefunden. Sie konnte zu einem anderen Leben führen. Ein Leben ohne Sorgen, dafür mit Champagner und Frauen. Viel Cham­pagner, viele Frauen. Aber noch war die Tür bloß eine Theo­rie, eine nicht ganz ungefährliche Idee, die der weiteren Evaluation bedurfte.

Man musste auch mal was riskieren.

Aus seinem Büro im 41. Stock - dafür hatte es immerhin schon gereicht - warf er durch den Regen hindurch einen beruhigenden Blick auf die Frankfurter Skyline: stählerne Tentakel, die sich aus dem pulsierenden Herzen der Stadt dem feuchten Himmel ent­ge­gen­reckten. Er spürte die Macht, die von diesen Türmen ausging.

Ro war den Versuchsaufbau mehrfach mit Mio und Child durch­ge­gangen. Die beiden gehörten zu seinem kleinen, ein­ge­schwo­renen Team. Ro war nicht der einzige, der mehr vom Leben wollte.

Morgen sollte es soweit sein: Der erste Test. Im Selbstversuch.

Ein Opfer zu bringen war etwas anderes, als das Opfer zu sein, eine Einsicht, die Ro grundlegend von den Forschern unterschied, deren Arbeit er be­wun­derte. Also hatte er den Begriff des Selbst­versuchs präzisiert, und zwar dahingehend, dass aus seiner Sicht Mio genau der Richtige für diesen Job war. So, wie Ro das sah, war er der ideale Kandidat. Vor allem, da niemand wusste, wie die Sache ausgehen würde.

Am Ende war es einfacher gewesen als gedacht, Mio zu über­zeugen. Ro hatte die richtigen Worte gefunden, in ihm schlummerte anscheinend ein echter Motivator. Und trotzdem war er noch nicht ganz zufrieden.

Das Problem: Mio wusste, dass morgen der Versuch statt­finden sollte. Auch wenn er den genauen Ablauf nicht kannte, war er doch mental darauf vorbereitet. Sie hatten ihn so konditioniert, dass er jederzeit für die Startsequenz empfänglich war. Konnte nicht allein dieses Wissen das Testergebnis beeinflussen? Selbst wenn er am Ende des Tests, vorausgesetzt, es lief alles nach Plan, keine Er­innerung mehr an das Geschehene haben würde. Da gab es doch diese Geschichte mit der halbtoten Katze in einer Schachtel? Ro konnte sich nicht mehr genau an das Katzen­experiment erinnern, trotzdem bestärkte ihn der Gedanke in seinem spontanen Ent­schluss: Er würde den Versuchsaufbau ein wenig abändern. Der Versuch würde schon heute stattfinden. Genauer gesagt: Jetzt.

Ro projizierte eine Tastatur auf seine Arbeitsfläche und gab ein paar Befehle ein. Er grinste, als er sich ein neues Sze­na­rio über­legte. Mio saß im gleichen Büro wie Ro, nur ein paar Meter von ihm entfernt. Er hatte keine Ahnung, was gleich auf ihn zukam und würde daher völlig na­türlich reagieren.

Ro drückte die Enter-Taste und ein paar Sekunden später stand Mio auf.

Er ging hinüber zur kleinen Theke am anderen Ende des Büros. Neben einem vorsintflutlichen Kaffeeautomaten stand dort ein na­gel­­neu­er 3D-Drucker von Mitsubishi Foods. Echte Frische kommt aus dem Drucker, informierte ein kleines Hologramm, das ein paar Zen­ti­me­ter über der Maschine schwere­los um die eigene Achse kreiste.

Ro subvokalisierte etwas in sein implantiertes Kehl­kopf­mikro­fon. Die Startsequenz. Derweil begann Mio, ein Rezept in den Drucker zu laden. Noch immer ahnungslos. Der Drucker war mit sechs Bio­pasten bestückt, aus denen sich Hunderte von leckeren Gerichten zu­sam­men­bauen ließen. Aber trotz jahrzehntelanger Beschallung mit Kochsendungen auf allen Kanälen, druckte sich Mio immer nur Pizza aus.

Ro gab neue Befehle auf seiner Tastatur ein. Daraufhin be­gan­nen die Über­wachungs­kameras im Raum mit einem Soft­ware-Update. Für ein bis zwei Minuten wären die Kameras durch diesen Vorgang auf unauffällige Weise erblindet.

Ro erhob sich, um die Waschräume aufzusuchen. Wenn das Ex­per­iment erfolgreich war, würde Mio gleich etwas ziemlich Verrücktes tun. Ro wollte nicht, dass es davon eine Video­auf­zeich­nung gab. Er wollte auch nicht selbst im Raum anwesend sein. Kei­ne Beobachtung, keine Interferenz, keine Schrödin­gersche Katze. Für Mio würde es eine schmerzhafte Sache werden, aber die Geschichte lehrte, dass man Opfer bringen musste.

Im Waschraum aktivierte Ro über sein Kehl­kopf­­implantat die eigentliche Versuchssequenz. Unmittelbar darauf hörte er einen mark­durch­dringenden Schrei.

Mio stand am Kaffeeautomaten und schaute ungläubig auf seine linke Hand. Die Haut war krebsrot, und an einer Stelle hatte sich eine wabernde Brandblase gebildet.

Mit der Rechten versuchte er hektisch das Ventil der uralten Ma­schine, aus der kochendes Wasser zischte, zu schließen. Die Brandblase an seiner Hand platzte und Was­ser­tropfen ver­dampften zischend auf dem rohen Fleisch.

Endlich zog Mio die Hand aus der Gefahrenzone. Er hatte keine Ahnung, wie das hatte passieren können. Der Hahn hatte sich doch nicht von selbst geöffnet? Aber so sehr er sich anstrengte, sein Gehirn hatte keinen Zugriff mehr auf das, was gerade geschehen war. Er ahnte nicht einmal etwas von der künstlichen Blockade, die sich in seinem episodischen Cortex eingenistet hatte. Zu seinen Füßen lag eine zerstampfte Pizza. Die hatte er wohl vor Schreck und Schmerzen fallengelassen. Zwei Salamischeiben formten ein paar traurige, rotgeäderte Augen, die ihn mitleidig an­starrten.

Ro zählte bis fünf, dann eilte er zurück ins Zimmer und sprang seinem Kollegen mit besorgter Miene zur Hilfe. Es roch verbrannt. Mio war einer Ohnmacht nahe. Sie brauchten eiskaltes Wasser und dann einen Sanitätsroboter. Aus­gezeichnet. Ro war sehr zu­frieden...

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